Von „green“ zu „clean“: der Paradigmenwechsels der EU

Vor etwa fünf Jahren hat die Europäische Kommission den Green Deal ins Leben gerufen, ihre Leitinitiative, mit der die Union bis 2050 zum ersten klimaneutralen Raum werden soll. Der Deal wird die EU in eine moderne, ressourceneffiziente und wettbewerbsfähige Wirtschaft verwandeln. So wurde es angedacht.

Seitdem haben sich die wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Faktoren grundlegend geändert. Die geopolitische Landschaft hat sich mit dramatischen und nachhaltigen Auswirkungen auf die europäischen Volkswirtschaften und darüber hinaus verschoben. Einige dieser Veränderungen waren nicht vorhersehbar, wie z. B. die unberechenbare Handels- und Zollpolitik der neuen US-Regierung, die die europäische Industrie noch stärker unter Druck setzten wird, andere sind hausgemacht, wie z. B. die Vernachlässigung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit oder die Verfolgung einer kurzsichtigen und politisierten Energiepolitik.

In Anbetracht der Bedrohung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit hat die Europäische Kommission vor kurzem ihren Clean Industrial Deal vorgeschlagen, dessen Schwerpunkt auf der Senkung der Energiepreise für die Industrie durch die Förderung erneuerbarer Energien, der Digitalisierung, der Sicherung kritischer Rohstoffe und der Verringerung des Verwaltungsaufwands liegt. Diese Initiative, die sich weitgehend auf die Empfehlungen von Draghi in seinem letztjährigen Bericht stützt, legt einen Schwerpunkt weiterhin auf die Dekarbonisierung.

Dieser Vorschlag hat jedoch die jüngsten globalen Entwicklungen noch nicht erfasst. Man könnte argumentieren, dass der Clean Industrial Deal bereits eine Initiative aus der Vergangenheit ist, noch bevor seine Umsetzung auf den Weg gebracht wird. Als Reaktion auf die tektonischen Verschiebungen in der geopolitischen Landschaft ist die Union gezwungen, ihren Schwerpunkt auf wirtschaftliche Sicherheit, strategische Autonomie und Verteidigung zu verlagern. Diese Erfordernisse stellen die Dekarbonisierung in eine zweite Liga.

Aufgrund dieser neuen Bedrohungslage, hat die Kommission im März ihr Weißbuch zur europäischen Verteidigung veröffentlicht. Dieses geht weiter als der Clean Industrial Deal. Es konzentriert sich auf die gemeinsame Beschaffung von militärischer Ausrüstung, ein Darlehensinstrument in Höhe von 150 Milliarden Euro sowie die Anpassung der EU-Defizitkriterien um die Mobilisierung von rund 600 Milliarden Euro zu ermöglichen. Dies ist im Zusammenhang mit der Forderung zu sehen, den Anteil der Verteidigungsausgaben von 2 % des BIP auf 3 bis 5 % zu erhöhen. Jeder Prozentpunkt Erhöhung ist größer als der Jahreshaushalt der EU von rund 160 Milliarden Euro. Darüber hinaus werden auch die bestehenden Finanzierungsinstrumente neu auf die Verteidigung ausgerichtet. Ein kürzlich unterbreiteter Vorschlag zur Änderung der Strukturfondsvorschriften, des wichtigsten Investitionsinstruments der EU, das traditionell auf Nachhaltigkeit und Stärkung der regionalen Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet ist, sieht eine Verlagerung der Finanzierung in Richtung Verteidigung vor. Ein Schritt, der vor einem Jahr noch undenkbar gewesen wäre.

Neben diesen neuen politischen Erfordernissen gibt es weitere Faktoren, die die Dekarbonisierung erschweren. Viele Europäer machen sich immer mehr Sorgen um ihre Lebensbedingungen und ihre Sicherheit oder um die schier unendliche Flut neuer Initiativen zur Förderung des Energiewandels, die ihr Einkommen schmälert und in ihr Lebensumstände eingreift. Es muss darauf geachtet werden, dass diese Trends nicht zu einer weiteren Stärkung der extremen Enden des politischen Spektrums führen. Auch wenn die Agenda dieser Parteien in vielerlei Hinsicht unterschiedlich ist, so gibt es doch einige Gemeinsamkeiten, die in der Kritik am Green Deal bestehen, sei es aus Gründen des Kostendrucks oder aus eher populistischen Gründen. Dieses „Unbehagen“ spiegelt sich deutlich in den Wahlpräferenzen wider, dieser Trend ist in unterschiedlichem Ausmaß in allen Mitgliedstaaten zu beobachten.

Der Fall Deutschlands, der größten europäischen Volkswirtschaft, ist vielleicht der auffälligste und anschaulichste. Noch bevor die neue Regierung ihr Amt antritt, hat der Bundestag ein außerbudgetäres Finanzierungspaket in Höhe von 500 Mrd. EUR beschlossen, was dem Jahreshaushalt Deutschlands entspricht, wobei die Schwerpunkte auf Infrastruktur, Digitalisierung, Senkung der Industrieenergiepreise, Verteidigung und Bürokratieabbau liegen. Zwar sind einige Investitionen zur Dekarbonisierung enthalten, aber ihr Gewicht ist deutlich geringer. Des Weiteren möchte die neue Regierung das in der Tat äußerst unpopuläre Heizungsgesetz zurücknehmen. Dieses Gesetz ist mitverantwortlich für den wachsenden Widerstand gegen klimafreundliche Maßnahmen, da es deren Last eindeutig auf die Endverbraucher abwälzt, deren Einkommen durch die anhaltend hohe Inflation ohnehin schon unter Druck stehen.

Ähnliche Entwicklungen sind auch in Österreich absehbar, erschwerend kommt hinzu, dass die neue Regierung einen im Vergleich zu Deutschland wesentlich verminderten fiskalen Spielraum hat. Unser Land befindet sich nun im dritten Jahr einer Rezession, die Inflation ist noch immer hoch und das Budgetdefizit offenbar unüberschaubar.  Im Regierungsprogramm lässt sich klar erkennen, dass die neue Bundesregierung den Schwerpunkt auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit gesetzt hat, und dies ist zu Recht, obwohl gerade in Bereich der Sozialpolitik neue Spannungsfelder entstehen könnten – mit negativen Auswirkungen auf mögliche Maßnahmen zur Dekarbonisierung Es liegt auf der Hand, dass der fiskale Spielraum für die Finanzierung sauberer und grüner Projekte in der Union schrumpft, und zwar rapide.

Diese nationalen Impulse wirken sich auch auf die EU-Ebene aus. Dies zeigt sich an Vorschlägen die darauf abzielen, grüne Rechtsvorschriften wie das Lieferkettengesetz aufzuweichen oder dessen Umsetzung zu verzögern, Dekarbonisierungsziele wie die für 2040 abzuschwächen oder das Auslaufen für Verbrennungsmotoren zu lockern. Ein interessanter Fall wird das Schicksal des CBAM sein, einer Vorzeigeinitiative der EU, wenn es um die Verbindung zwischen Handel und Dekarbonisierung geht. Die gegenwärtigen Turbulenzen im Handel und bei den Zöllen könnten die beabsichtigte Umsetzung dieser Initiative in Frage stellen.

Schauen wir uns also an, welche Sektoren von diesen Trends am stärkster in Mitleidenschaft gezogen sein könnten und in welchen Sektoren die Dekarbonisierung potenziell weniger betroffen sind.

Zweifelsohne ist die Dekarbonisierung der Stromerzeugung und -nutzung ein Bereich für die die Hindernisse am Geringsten sind. Der Sektor wird seinen Weg der Dekarbonisierung fortsetzen, angetrieben durch Wind- und Solarenergie und möglicherweise eine wiederbelebte Atomindustrie (in einigen Mitgliedstaaten). Diese Änderungen erfordern auch Investitionen – und Förderung – im Bereich Netzinfrastruktur und -stabilität, dies ist eine strategische Notwendigkeit.  Die fortschreitende Elektrifizierung anderer Sektoren, z. B. des Verkehrs- oder Wärmesektors, wird zusätzliche Möglichkeiten zur Dekarbonisierung schaffen. Maßnahmen zur Stadterneuerung und der städtischen Elektromobilität werden wahrscheinlich voranschreiten, da die Stadtbevölkerung eher geneigt ist, Maßnahmen zu unterstützen, die vermeintliche Nachteile wie höhere Kosten mit sich bringen.

Erwartungen für eine beschleunigte EU-weite Verbreitung von E-Autos werden realistischer, da die Anreize reduziert werden.  Positiv ist jedoch, dass das Voranschreiten der Elektro-mobilität durch den kontinuierlichen Zustrom von relativ billigen E-Autos aus China unterstützt wird – dies wird die Dekarbonisierung tatsächlich fördern. Interessant ist, dass die Handelsbeziehungen mit China infolge der von den USA zu ergreifenden Zollmaßnahmen wahrscheinlich weniger politisiert werden.

Anders sieht es bei den energieintensiven Industrien aus, für die das übergeordnete Ziel eindeutig darin besteht, die industrielle Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und zu stärken, insbesondere für Industrien die von wachsender strategischer Bedeutung sind wie Stahl und KI oder solche, deren Abbau kostspielig ist, wie in der Zementindustrie. In ähnlicher Weise ist ie Zukunft der Dekarbonisierung durch Wasserstoff – angesichts des enormen Investitionsbedarfs von der Produktion bis zur Nutzung – oder in der Schifffahrt und die Verbreitung von SAF als düster anzusehen, ebenso wie die der Landwirtschaft.

Die Weichen in Richtung Klimaneutralität sind gestellt. Die Dekarbonisierung der europäischen Volkswirtschaften wird weitergehen, doch hat sich der Abstand zur Erreichung einiger dieser Ziele vergrößert. Es ist offensichtlich, dass geopolitische Verschiebungen und wirtschaftliche sowie soziale Erfordernisse die europäischen Klimaziele aufweichen werden. Die eigentliche Herausforderung wird jedoch auf der internationalen Bühne liegen, da zunehmender Unilateralismus, eine schwankende Zollpolitik und die Förderung kohlenstoffintensiver Energien tiefgreifende Auswirkungen auf die weltweiten Emissionen haben werden. Die EU wäre gut beraten, sich in diesem neuen Umfeld zu positionieren, ihre Beziehungen zu ihren wichtigsten Handelspartnern neu zu bewerten und neue Allianzen zu suchen, um ihren Bemühungen um die Kohlenstoffreduzierung und die Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit neuen Schwung zu verleihen.

 

ASEP Senior Expert Erich Unterwurzacher hat sich lange Jahre als leitender Mitarbeiter in der EU-Kommission mit Energiethemen beschäftigt.
redaktion@asep.at

green to clean von ASEP SE Erich Unterwurzacher

Download starten

Download Link schicken an:

Ich stimme zu, dass meine Email-Adresse für etwaige Kontaktaufnahmen verwendet werden darf.

PROJEKTANFRAGE

Wir freuen uns über Ihr Interesse und werden Ihre Anfrage umgehend beantworten.